DER DISTRIKT (0)

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DER DISTRIKT 

Ein utopischer Roman

DER DISTRIKT (0) - Prolog
DER DISTRIKT (1) - Erstes Kapitel
DER DISTRIKT (2) - Zweites Kapitel
DER DISTRIKT (3) - Drittes Kapitel
DER DISTRIKT (4) - Epilog



Quia unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet.
- Spinoza, Tact. polit. 2, 8


Prolog


Es kracht und mit einem Schlag fällt das Fahrrad auf den Boden. Jan öffnet das Garagentor in dem sich das kleine Schicksal abgespielt hatte. Er hebt das Fahrrad wieder auf und prüft ob die abgerissene Halterung für das Fahrrad noch genug fixiert ist. Das Gewicht zieht an dem Bolzen und erneut kippt das Fahrrad über und will von der Wand fallen. Jan flucht und stellt das Rad beiseite. Er seufzt und verzieht das Gesicht, als er sich mit dem Handrücken die Stirn abwischt. Nochmals prüfend zieht er an der Radhalterung. Um die Einfahrt vor der Garage kommt seine Frau mit einem Stirnrunzeln zu ihm: „Was ist los? Was war das für ein Poltern?“   Er blickt zu ihr weiter in gebückter Stellung auf und sagt: „Das sollen die Halterungen für das Fahrrad werden – Sollte bald unser Auto hier stehen, muss eine Menge Platz hier frei werden.“  Die Hand seiner Frau umfasst den Griff des Fahrradlenkers und dreht ihn ein paar Mal nebenbei: „Das Fahrrad ist schon abgenutzt, aber das brauchst du ja eh nicht mehr-“ „Was für ein Zufall, hm?“ er lächelt ihr zu. Sie greift nach ihm , umfasst ihn und beide sehen sich ganz nah an, bis sich ihre Nasenspitzen treffen. „Schon Montag geht’s los.“ sagt er und schaukelt sie ein wenig hin und her „Aber du wirst doch nicht in einen anderen Betrieb müssen, oder?“ Sie wird noch anschmiegsamer: „Nein, mein Schatz – derselbe Betrieb nur eine andere Stellung. Eine höhere Position!“ Er betonte die letzten beiden Worte und reckte sein Kinn dabei weit nach oben. Sie lacht mit leicht vorgehaltener Hand. Beide umarmen sich wieder und sehen sich über die Schultern, wieder schaukelt er sie leicht. „Ich werde nicht mehr auf Schicht müssen, wie der Norbert – ich bekomme 15 Minuten Mittagspause und 10. Monatsgehälter ausgezahlt. Weißt du, “ er sieht sie wieder an, „weißt du was das bedeutet?“ Ihre Augen weiten sich aber ein Fragezeichen bildet sich in ihrem Gesicht. „Wenn ich drei Jahre gearbeitet habe, dann können wir anfangen das Haus abzubezahlen!“ Christine lässt ein Lächeln scheinen und bewegt ihren Mund zu einem Kuss zu ihm. Eine Leidenschaftliche Sekunde vergeht in der, der Wind sein Spiel mit den abgefallenen Ahornblättern in der Einfahrt treibt und die Vögel ihr Mittagslied nicht zum letzten mal anstimmen.


Nach dem verspäteten Mittagessen werden Brote für die Pause gemacht. Obwohl Jan erst am Abend zum Betrieb muss, werden die „Dubbel“ schon Mittags mit Liebe bereitet und in seine Tasche gestellt. Seine Frau übernimmt das jeden Tag, so wie sie den Rest des Haushalts übernimmt. Für sein Gewissen ist das nicht verwerflich, zumal er täglich zwölf Stunden arbeitet. In ihrem kleinen Haus, das auf Hypothek vom Distrikt abgekauft werden sollte, fühlen sie sich wohl. Es soll der Ort sein an dem ihr Baby aufwachsen wird. Zwischen den Urethan-Kolonnen und dem Gebiet C21 liegt die ehem. Elsa-Brandström-Strasse, die jetzt umverlegt und Johann-Gmeiner-Strasse getauft wurde, endend in einer kleinen, von Wald umrandeten Reihenhaussiedlung. Der Wald ist dünn und Angegriffen von Krankheiten und dem sauren Regen, jedoch blühen die Kirschbäume und die Vögel bauen weiter ihre Nester. Die Sonne scheint durch einen schaukelnden Ast der Birke an dem Bürgersteig und ihre Strahlen zielen durch die Scheibe auf die unfertigen Brothälften. Christine ist aber nicht mehr in der Küche.


Die Distrikt-Nachrichten am Nachmittag zeigen im zweiten Bericht einen Mann ohne Hose und Oberteil, nur mit einer zerrissenen Shorts bekleidet, einem langen Bart und zerzausten ungeschnittenen Haaren, wie er von zwei starken Interzeptoren des W.E.R.K.S.C.H.U.T.Z. abgeführt wird. Er wird fast durchs Bild getragen, die Aufnahme ist auch sehr schlecht, doch sieht man keine Gegenwehr des Mannes. Nur der Blick, der Ausdruck in den Augen blieb im Gedächtnis, als der Sprecher anschließend Informationen über den Verbrecher verliest. Spionage und zwar Jahrelange wird ihm vorgeworfen, rebellische Gesinnung und als eine politische Gefahr im höchsten Maße werden im angehangen werden. Nur der Blick, der Ausdruck in den Augen bleiben im Gedächtnis als die Nächsten Beiträge die Sinne überschwemmen.


Jan bemüht sich um seine Disziplin als er aufstehen will. Er greift nach vorne, nach einem imaginären Griff, der ihn aus der Couch ziehen kann und drückt sich aus dem Sitzleder. Zerknirscht fährt er sich durch die Haare, die andere Hand, bereit zum Aufbruch, über das Knie gelegt. Mit einem Satz schlägt er sich aufs Knie, zieht seine Hauslatschen über sie Füße und steht im Zimmer. Anfangs stramm, dann verzerrt in einem Gähnen. Reißt sich dann wieder zusammen, schaltet den Fernseher mit der Fernbedinung aus. Er lässt die Jalousien herunter, bis nur durch die Lochreihen das Licht in das beige Wohnzimmer strahlt. Langsam trottet er hoch ins Ankleidezimmer. Seine Frau sitzt im Schlafzimmer davor und fragt ihn: „Du musst los, Schatz! Es ist schon fast halb sieben! – Noch hast du kein Auto.“ Sie lacht und legt ihren kleinen gestrickten Pullover beiseite. er halb in Trance sieht sie an und greift dabei nach Hemd und Hose. Sie dreht ihren Kopf zur Decke und er nutzt den Augenblick um sich ihrem Gespräch zu entziehen;  geht ins Bad und zieht sich um. Als er vor dem Waschbecken steht sieht er sein Spiegelbild und reibt sich übers Kinn. Er sieht sich in die Augen und misst sich selbst mit dem Blick. „Noch zwei Nachtschichten...“ Das Schlimmste an der Nachtschicht war nicht die Müdigkeit am Tag, der ungewohnte Schlafrhythmus oder das Problem, wenn alle wach sind zu schlafen, vielmehr ist es im Betrieb sich nicht die Blöße zu geben, unachtsam zu sein oder gar einzunicken, wenn gerade länger nichts zu tun ist. Alle anderen Probleme kann man sozial ausgleichen. Er blickt noch einmal ob nicht doch graue Strähnen sprießen und wendet sich ab um nach unten zu gehen. Als er seine Tasche greift, stülpt er seine Armbanduhr über das Handgelenk und fixiert die Digitalziffern. „Oh, nein! Ich komm zu spät zur Besprechung! Heute ist Übergabetag!“ Er lässt ab von der Uhr und der Tasche und zieht hastig seine Schuhe über, dabei geht er gebückt wieder Richtung Küche und erblickt die unfertigen Brote noch immer auf dem Brettchen liegen. Einen Moment der Entschlusslosigkeit weiß er nicht wie er vereinbaren konnte ohne Dubbel auf die Arbeit zu gehen, bis im wieder seine Verspätung einfällt und er nur die Tasche nach draußen nimmt. Draußen verabschiedet er sich von seiner Frau, die schon am offenen Schlafzimmerfenster steht und auf ihn wartet. „Tschüss, mein Schatz!“ – „Auf wiedersehen und gute Schicht“, ruft sie ihm hinterher und pustet einen Handkuss in seine Richtung. Jan ist jedoch schon auf sein Rad gestiegen und tritt eilig in die Pedale, seine Tasche auf dem Gepäckträger. Christine schließt das Fenster und schiebt die hellweißen, seidenen Vorhänge wieder davor.


Durch offene Straßen führt ein direkter Weg zu seinem Betrieb. Eine Kolonne Schwerlastkraftfahrzeuge, macht es ihm unmöglich auf der Höhe der Urethan-Kolonnen die Kreuzung zu überqueren. Ein Beamter, mit Funkgerät winkt ihn kulant zwischen zwei Fahrzeugen durch, die höchstens Schrittgeschwindigkeiten fahren. Alle anderen Autos müssen warten. Die von den schweren Fahrzeugen befahrene Straße ist in beiden Richtungen einen Kilometer gesperrt, durch den W.E.R.K.S.C.H.U.T.Z. Jan loggt sich beim Pförtner mit seinem Rad ein und passiert die letzten drei Sicherheitsbarrieren. Durchleuchten, wiegen und der Metalldetektor. „Ist der Eddie nächste Woche in der Frühschicht?“, fragt er den breiten Pförtner hinter dem Glas. Er blickt ihn an und runzelt die Stirn. „Nein, Eddie VanHouten, wenn sie den meinen, der ist Abschnitt C und zwar...“ „Nein, danke, ich kenne nur  den Eddie von hier. Wie der weiter heißt weiß ich jetzt auch nicht mehr, aber wir sehen uns sonst immer in der Frühschichtwoche, und da..“ Diesmal unterbricht der Pförtner: „Ich kenne hier keinen Eddie und mehr weiß ich nicht“ Dabei verschränkt er die Arme und macht ein ernstes Gesicht. Jan setzt sich wieder auf sein Rad, als er die Aussage im Kopf zusammensetzt. „ Kennen Sie die andere Schicht nicht?“ fragt Jan noch. Doch der Pförtner sieht ihn nur stoisch weiter an,  so dass Jan mit einem Kopfschütteln losfährt. Das Schweigen kam ihm eigentlich recht, da er eigentlich für seinen Smalltalk mit dem Pförtner nicht viel Zeit hatte. Jan grübelt trotzdem über den Vorfall. „Man muss doch seine Kollegen kennen – zumindest beim Namen.“ Er biegt am Ende der Urethan-Kolonnen ab und fährt südlich zu den neueren Crackern, die erst letztes Jahr fertiggestellt wurden. Daneben befindet sich sein Betrieb, der sich mit der Entwicklung von Duroplasten beschäftigt. Kunststoffe, die so hart wie gesinterter Stein werden sollen. Eigenschaften von Keramik in einem Produkt, leichter als Aluminium, einfach formgebend wie alle Kunststoffe aber trotzdem billig in der Herstellung. Sein Job war immer die Technische Überwachung der Test-Anlage, Wartung und gegebenenfalls Reparatur. Seine Schicht war die beste des Betriebs und er als ‚Trainer’ seiner Mannschaft, hatte dafür auch den Jahreszuschlag von 1,5% auf ein Monatsgehalt bekommen. Man verdiente als Schichtmeister nicht unbedingt mehr, aber man hatte nicht die ganzen Laufjobs der Arbeiter.


 Sitzend in der Zentrale begrüßt ihn Karl, ein weiterer Schichtmeister. Er sieht Jan durch die Scheibe und dreht sich mit seinem Stuhl schon um seinen Platz zu verlassen.  Jan hetzt sich in die Spindkammer um schnell den  Overall und die Werkstiefel überzuziehen. Sein Helm ist schon ziemlich zerkratzt und das Weiß ist zu einem milchigen Grau geworden. Nun ‚Schutzbekleidet’ und von der schnellen Fahrradfahrt verschwitzt gelangt er in die Schaltzentrale, wo er als erstes die Schicht grüßt. Er geht direkt hinüber zum Besprechungsraum. „ Der ‚Hintern’ wartet schon, hat dreimal seine Nase rausgesteckt, ob du auch ja nicht da bist!“ ruft einer neckisch von einem Steuerpult. Jan verzerrt sein Gesicht zu einem Grinsen, bei dem Gedanken an seinen Abteilungsleiter Herrn Hinterfürth, hinter vorgehaltener Hand liebevoll der Hintern genannt. Nicht nur wegen seinem Namen. Jan klopft dreimal mit dem Zeigefingerknöchel gegen die Tür, drückt behutsam die Klinke und betritt den Raum.


 Die gesamte Schicht ist um einen U-förmigen Tisch versammelt und wartet auf die Reaktion des Abteilungsleiters. Der steht mit einer Fernbedienung vor einer Vid-Tafel und war mitten in der Erklärung als Jan die Besprechung betritt. Ein stiller Blick später, öffnet Hinterfürth seinen Mund: „Herr VanGaater wollten Sie an der Besprechung nicht teilnehmen?“ „Ich...“-„Ziehen Sie es vor“, fährt er ungehindert fort und schreitet, mit der Fernbedinung hinter dem Rücken verschränkt, auf ihn zu „ziehen sie es vor UNINFORMIERT an die Arbeit zu gehen Herr VanGaater? Möchten Sie diese Nachtschicht nicht bei uns verbringen?“  Hinterfürth starrt ihn an. Jan schließt die Türe hinter sich, dem Blick ausweichend. Normalerweise wird man lakonisch zurechtgewiesen und damit ist die Sache abgeschlossen. Doch eine Nachtschicht nicht im Betrieb zu verbringen bedeutet nur, dass man sie bei der  W.E.R.K.S.C.H.U.T.Z.-Personalabteilung verbringt. Es sind extra Centren eingerichtet worden, die für ‚den inneren Ausgleich’ sorgen sollen. Man wird von den Angestellten solange ‚betreut’ bis man wieder zur Arbeit finden kann. Das wird selten als Scherz ausgesprochen, auch nicht in erheiterter Runde. Es bedeutet ebenfalls, dass der Betreffende dort übernachten muss und sogar bis zum Betrieb gefahren wird, wenn er wieder arbeitet. Es wird eine Nachricht nach Hause übermittelt und der Lohn-Jahresbonus geht verloren. So überlegt Jan wie er gerade dieses Unglück abwehren könnte...


 Nach der Teambesprechung findet sich Jan auf persönliche Anweisung beim Abteilungsleiter selbst im Büro ein. Jan ist nervös und geht die letzte Situation im Kopf durch. Er schreitet durch die Schaltzentrale und blickt pathetisch vor seine Schritte. Er sieht nicht, dass die Gänge sind alle neu verputzt und weiß gestrichen sind, mit neuen farbigen Linien, die als Richtungsweiser dienen, an wichtige Orte des Betriebs führen. Die im ersten und zweiten Stock gelegene Büroetage jedoch hat zudem einen Teppichboden mit den Emblemen des Distrikts und Zimmerpflanzen, die wahrscheinlich künstlich sind.  Die einzige Tür mit dem Milchglasfenster aus Makrolon ist die des Betriebsleiters. Direkt gegenüber sitzen die Sekretärinnen und machen Bürogeräusche aus ihren Zimmern.  Jan klopft an die verschalte Tür aus Poly-Urethan mit Messinggriff wahrscheinlich auch aus Plastik. „Herein!“ Jan tritt ein und bleibt zunächst in der Mitte stehen. „ ...sie wollten mich sprechen? Herr Hinterfürth, ich...“ „Ah, ah!“ wehrt er bereits ab und senkt die Augenbrauen: „Fangen Sie nicht schon an! Ich habe Sie aus drei Gründen herbestellt:“ Wie eine magische Formel betont er den Satz und hebt dabei drei Finger. „Zum einen sind Sie heute morgen eklatant zu spät gekommen – und das an einem Freitag, wo Besprechung für die Übergabe ist. Wissen Sie so was können Sie sich doch nicht erlauben, Herr Hansen!“ Dabei blickt er ihn eindringlicher an. Dann spreizt er seine Finger, stützt sich darauf ab, lehnt sich über den Tisch und weist ihm den Stuhl zu. „Setzen Sie sich doch!“ Jan schiebt den Stuhl zurück und nimmt Platz, gespannt was nun folgt. „Herr... äh“, mit einem flüchtigen Blick liest Hinterfürth den richtigen  Namen aus der Akte auf dem Monitor ab, der in den Glastisch eingelassen ist; nur sichtbar für den, der dahinter sitzt. „Herr VanGaater!“ wieder freundlich aber mit falschem Lächeln, „sie sind nun schon ihr gesamtes Berufsleben in diesem einen Betrieb – ich nicht;“ er gestikuliert und zieht die Mundwinkel nach unten. „von mir können Sie nicht erwarten, dass ich weiß wie Sie denken, sich hier gebärden zu müssen, Herr VanGaater. Wenn Sie zu spät kommen bedeutet das für mich nur, dass Sie mit der Arbeit nicht fertig werden, oder sich drücken wollen.“ Seine Augen zeigen die Gewitztheit eines aufsteigenden Bürokraten; einer machtgeilen Person – doch nach außen hin gibt man sich eher als der Kompetente Geschäftspartner, der informierte Anführer aller Ideen oder der erzürnte Schützling der immer nur gutes für einen will solange Gehorsam geboten wird. „In ihrem Fall...-“, er macht eine lange Pause, lehnt sich nach vorne um  seine Ellbogen auf dem Tisch abzustützen und seine Hände zu reiben. Jan setzt an: „Ich denke, wir könnten uns vielleicht so vereinbaren, dass ich mich für doppelte Nächte eintragen lassen kann um dem entgegenzukommen“ Er schnalzt. „Wissen Sie, VanGaater, wie das in meinen Ohren klingt?“ er schiebt seine Brille griffig an die Stirn und fährt sich mit dieser Hand durch die Haare. Steht barsch auf und hält die eine Hand auf dem Tisch und fuchtelt wild mit der anderen in Richtung Jan; er beugt sich sogar etwas herüber und redet sehr laut und leiernd: „Das klingt bei mir wie Arbeits-Aufschub, Lohnentzug, wie Firmenbetrug!“ Ganz rot ist sein Kopf geworden und ein Speichelbällchen hat sich während dem Ausbruch aus dem Mundwinkel gelöst. Er blickt ihn wütend an. Wechselt die Stellung seines Kopfes von links nach rechts geneigt und fragt Jan: „Wie verbleiben wir?“ – Jan  räuspert sich und denkt etwas langsamer: ‚Ich melde mich gleich morgen bei der Abteilung. Aber lasse mich auch vorbenoten vom gesamten Betriebsrat...’ – „Herr Hinterfürth ich würde mich disziplinieren und auf ihre Forderungen eingehen, welche Sie auch stellen.“ Herr Hinterfürth steht nun gerade, etwas neben dem  Stuhl, und zieht die Hand vom Tisch. Dann geht er zum Fenster nach links und verschränkt die Arme. Er legt eine Hand ans Kinn. Geht, dreht sich auf einem Fuß. Blickt zu Boden und dann auf Jan, der scheel aus dem tiefen Polsterstuhl herauslugt. Jan steht auf und steht erst halb als Hinterfürth zu ihm schreitet und ihm direkt ins Gesicht schaut. Nur einen Mundhauch zum nächsten Gesicht entfernt: „VanGaater Sie sind ohne Moral. Menschen wie Sie gibt es genug. Sie können mir folgen?!“ und verzerrt sein Gesicht zur Grimasse während er redet und seinen Kopf so dreht, dass er durch die Brille auf der Nasenspitze durchsieht. „Bringen Sie mir ein Beispiel was als nächstes folgen soll? Sie sind ein kreativer Arbeiter? Ihre Akten lügen nicht, wenn Sie ihre ‚neue’ Arbeitsmoral selbsterfunden haben?!“ - Wieder seine Grimasse. Sein Mund beim Sprechen verzerrt. Er weicht zurück. „Gehen Sie schleunigst an die Schicht. Wir werden bei Ihrer Nachtschicht heute statt in der Schichtpause Brote essen, alle die Zeit einholen,“ wieder ganz nah: „die Sie uns gestohlen haben!“


* *


Die Schweto Tür fällt, von einer Trägheitsfeder gebremst, in ihren Rahmen, wo die Teilchen des  ABUS Nanoloc Schließzylinders sofort einen festen Sperrblock formen um die Tür zu fixieren.
Diese Tür schließt, sie teilt, trennt Jan von der Situation der vergangenen Minuten und lässt wieder Luft in seine Lungen und Haltung in Jan´s Kreuz fahren.
Wie ihm so etwas zuwider war, obwohl auf die Befehlshierarchie der Arbeitswelt getrimmt, vermag er so etwas nicht immer leicht verdauen. Die Sekretärin, über den Rand ihrer, an einer üppigen, um den Hals getragenen Kette gesicherten, Rodenstock Lesehilfe äugend, ist nicht nur ein Symbol für den Unterschied von Arbeiter und Beamtentum, welcher seit der industriellen Initiation bewusst gemacht wird, vielmehr steht sie für all jene, welche im Schatten der Grossen, von ihren Bürositzballen herab, ihre Häme gegen Leute wie Jan richten, obwohl sie eigentlich die Laufburschen beider Parteien sind und nur temporär die Privilegien der Grossen besitzen, werden sie doch ebenfalls gnadenlos für die kleinste Fehlleistung zum letzten Gang zum Personalbüro geschickt.
Es liegt jedoch in der Natur des Menschen sich auf die Seite des Stärkeren zu stellen, sollte dabei auch die Würde in der eigenen Schleimspur stecken bleiben.
Der arrogante Blick von Rita Valens findet jedoch direkt seinen Punkt am Indexboard wieder, als Bernhard-Herzog Kaupers, Abteilungsleitender der Bayer BioScience Faszilitäten, das Foyer betritt, um auf direktem Wege die Tür anzusteuern, welche Jan gerade zugezogen hatte.
Jan lässt es sich auf dem Weg nach draußen nicht nehmen dieser kniepigen Sekretärin einen abschätzenden Blick zukommen zu lassen, wobei er, die Sohlen etwas härter als sonst auftretend, eine Hand nach der Kontaktfläche des Lifts streckt und auf selbigen wartend,
mit einem nun starren, apathischen Gesichtsausdruck gegen ihre „hochgezogene Augenbraue“ Mimik anhält. Da erschallt auch schon aus der von Kaupers nicht richtig geschlossenen Bürotür die barsche Anweisung Hinterfürths: “Der Herr hier hätte gerne einen Bohnenkaffee Frau Valens, meine Wenigkeit übrigens auch!“
Man konnte ihr irgendwie nicht wirklich Böse sein, dachte Jan.

Selten ist Jan so schnell mit dem Lastenfahrrad unterwegs, wie er es nun tut um seinen Schichtraum zu erreichen und die ersten Anweisungen vorzubereiten. „Für heute 13.25UHR steht unser  Schwelbrand Training an, VanGaater!“, fällt ihm Bahlke entgegen. „Weiß ich alles, später...!“, jetzt nur erst mal in den Schichtraum, Sachen ablegen und durchatmen können. Alles andre MUSS jetzt warten...
 Eine Restmenge Adrenalin, welches während des Gesprächs mit dem „Hintern“, von seinem Stresszentrum aufgebaut wurde, befindet sich immer noch in seinem Kreislauf und lässt ihn zügig und hastig agieren.
 Das Schloss des Schichtraums, Meilenweit von der Technologieklasse des ABUS nanoloc  an der Tür von Hinterfürth entfernt, dreht sich nur schwergängig wegen seinem oxydierten Innenleben, doch die Tür ist endlich offen und fliegt auch direkt wieder ins schloss als er „seinen“ Raum betritt.
 Der Raum des Schichtmeisters, DAS Privileg, welchen er sich für die nächsten 12 Stunden mit dem ekelhaften Zigarettengestank, welcher von seinem Vorarbeiter Steffen hinterlassen wurde, teilt. Egal, Jan sackt auf dem Stuhl vor der Memowand zusammen und behält Mantel und Helm an. Nach ca. 20 Sekunden ist das Rauschen in seinem Kopf weg und er nimmt in der Stille des Raumes, abgesehen vom sonoren Brummen der nahegelegenen Verteilerkondensatoren, sein Schnaufen wie ein Tidengetöse war.
„Was für ein Tag...verdammte Scheiße“,  zischt er, sich die Hände unter den Helm schiebend und diesen mit einem Schwung vom Kopf hebelnd um nun seine Aufmerksamkeit den Memos an der Indexwand zu widmen „13.25UHR Schwelbrandtraining...ET 02, Halle 4. Leitende bzw. Gruppenführende Personen bitte mit grünem HELMBAND kenntlich machen.“

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